Ich will reden, damit ich Luft bekomme; ich will meine Lippen auftun und antworten (Hiob 32,20)
Es ist Elihu, der hier gerade kurz vor dem Platzen steht. Zuvor hat er ganze Kapitel lang ein bestimmtes Schauspiel beobachtet: Hiob steht in der schwersten Prüfung seines Lebens, ihm war absolut alles genommen worden – von Besitz über Familie bis hin zu Ansehen und Gesundheit – und er leidet zutiefst. Seine drei Freunde haben sich aufgemacht, um ihm beizustehen, und gemeinsam versuchen sie nun, das Geschehene irgendwie einzuordnen. Sie versuchen zu verstehen, was eigentlich geschehen war, wie es zu verstehen ist, was Gott vielleicht sagen wollte und was für eine Perspektive Hiob jetzt hat.
Und so reden sie miteinander. Ein Freund nach dem anderen, eine Antwort Hiobs nach der anderen. Unmittelbar, bevor Elihu die Szene betritt, lesen wir einen sechs Kapitel langen Monolog von Hiob, der mit der Aussage endet: Zu Ende sind die Reden Hiobs (Hiob 31,40). Und damit endet auch das Gespräch mit den Freunden: Und jene drei Männer hörten auf, Hiob zu antworten, weil er in seinen Augen gerecht war (Hiob 32,1). Wir wollen heute morgen nicht in die Tiefen der Ereignisse einsteigen, doch wir wollen uns mal anschauen, was hier passiert.
Wenn du insbesondere die letzten Kapitel von Hiobs Monologen liest, findest du einen sehr selbstüberzeugten Mann, der sich vollkommen im Recht sieht, und der seiner rühmlichen Vergangenheit nachtrauert. Willkommen auf der Selbstmitleidsparty im Hause Hiob. Seine Freunde dringen mit ihren Einwänden nicht so recht durch, denn Hiob redet sehr gewandt und argumentiert auf höchstem Niveau. Doch wenn du mal hineinspürst in diese Situation, nimmst du vielleicht folgendes wahr: Ein Unwillen auf Hiobs Seite, sich kritisieren und korrigieren zu lassen, gepaart mit einer gewissen Selbstgefälligkeit in seinem Unglück. Auf mich wirkt es fast so, als würde Hiob nun sein Unglück feiern. Schon mal Menschen erlebt, die sich ihres Leides rühmen? Die bis zum Hals im Elend festsitzen? Und nichts, was du sagst, dringt auch nur einen Zentimeter weit zu ihnen durch? Es gibt Menschen, die bauen eine Barrikade um sich herum auf, die ihr Elend beschützt! Warum? Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Aber es gibt tatsächlich Menschen, die sich in ihrer Geschlagenheit und Angegriffenheit gefallen, denn irgendeinen Nutzen hat es für sie. Hiob hatte beispielsweise permanente Gesellschaft und eine treue Zuhörerschaft für seine Selbstbeweihräucherung. Ich möchte niemanden angreifen oder bloßstellen, doch unser Seelchen kann schon manchmal verrückte Dinge mit uns anstellen – wenn wir es zulassen! Und Hiob verkauft seine Seelenparty übrigens ausgesprochen geistlich! So geistlich, dass seinen Freunden schließlich die Worte fehlen.
In der Zwischenzeit steigt bei Elihu der Blutdruck. Er steht kurz vorm Platzen und legt los. Wenn du Kapitel 32 liest, wird deutlich, dass Elihu sich ziemlich weit aus dem Fenster lehnt, denn Respekt und Anstand hätten ihm eigentlich geboten, sich zurückzuhalten. Doch Gott sei Dank für die Elihus, die wissen, wann es Zeit ist, ausgesprochen respektvoll den Anstand zu verletzen. Ich liebe Elihu für sein gepflegtes Ausrasten! Wenn du die folgenden Kapitel liest, siehst du Elihu förmlich in Rage dastehen, wie er Hiob immer wieder sagt: Moment, ich bin noch nicht fertig. Er stand unter Strom und musste einiges loswerden.
Ich frage mich, ob die Freunde von Hiob nicht das gleiche gewusst haben? Wenn du ihre Antworten liest, klingen ähnliche Ansätze wie bei Elihu schon durch. Doch meine persönliche These ist, dass sie von Hiob, seinen gewählten Worten und seiner Position so eingenommen waren, dass sie es nicht wagten, ebenso vom Leder zu ziehen, wie es schließlich Elihu tat. Und sie waren die Freunde Hiobs! Sie trauten sich nicht, Hiob gegenüberzutreten und in aller Deutlichkeit das zu sagen, was sie hätten sagen können. Als Freunde sind wir manchmal in diesem Sandwich von Zu einem Freund stehen und Einem Freund die Meinung sagen. Und ehrlich gesagt, ich verstehe die Hilflosigkeit von Hiobs Freunden ganz gut. Sie achten und lieben Hiob, doch können sie ihm nicht helfen, weil sie ihn in ihrer Freundschaft wie ein rohes Ei behandeln. Für mich ist es eine der schwierigsten Situationen: Einen Freund oder eine Freundin zu sehen, bei denen offensichtlich ist, dass sie in eine komische Richtung laufen, sie merken selbst, dass die Dinge nicht passen, doch sie sind unerreichbar für eine andere Sichtweise der Dinge. Und Freundschaft lässt uns oft keine andere Wahl, als sie vorsichtig wie rohe Eier zu behandeln.
Preis sei Gott für Keulenschwinger wie Elihu! Er ist frei von jeglicher Bindung an Hiob und holt so richtig aus. Er tut es nicht respektlos, aber mit reichlich Elan. Und was passiert, ist, dass Gott selbst quasi auf dem Teppich kommt, den Elihu ihm ausrollt. Schließlich redet Gott persönlich zu Hiob und durchdringt seinen ganzen selbstgezüchteten Weihrauch. Das Ende vom Lied ist, dass Hiob Buße tut, dass die Freunde Hiobs einen Schuß vor den Bug von Gott bekommen, Hiob selbst für sie Fürbitte leisten muss, und auf diese Weise schließlich das Schicksal Hiobs gewendet wird.
Mein Plädoyer heute morgen ist: Lasst uns nicht in die Falle tappen, aus Freundschaft und Liebe alles mitzumachen oder geschehen zu lassen. Es erfordert Mut und Risikobereitschaft, einen Freund zu konfrontieren. Lasst uns um die Weisheit bitten, das rohe Ei nicht zu gefährden, aber im richtigen Moment auch zur Keule zu greifen, falls es nötig ist.