Und die ganze Gemeinde der Kinder Israels murrte gegen Mose und gegen Aaron in der Wüste (2. Mose 16,2)
Wusstest du, dass uns ein Leben in der Sklaverei Ägyptens zu verwöhnten Bälgern machen kann? Achte mal auf die Stimmung, die im Volk Israel herrscht, wenn du 2. Mose liest. Zuerst herrscht unterschwellige Angst vor Ägypten, doch sobald das Volk durch das Schilfmeer gezogen ist und den Untergang seiner Feinde gesehen hat, ändert sich schlagartig die Stimmung. Plötzlich hat Mose es mit renitenten, genervten, hyperanstrengenden und ewig quengelnden Genossen zu tun. An seiner Stelle wäre ich wohl ausgerastet…
Das Volk Israel offenbart in dieser Situation eine Sache: Sie sind total verwöhnt. In Ägypten knallte zwar immer mal die Peitsche, und der (Angst-)Schweiß floß vermutlich in Strömen, aber immerhin brauchten sie sich um absolut nichts kümmern. Als Gegenleistung zu ihrer Fronarbeit hatten sie freie Kost und Logis bei Vollpension. Für verstopfte Abflüsse gab es den ägyptischen Hausmeisterservice, das Essen stand jeden Tag pünktlich auf dem Tisch (gut gewürzte ägyptische Hausmannskost), und sie durften sogar Haustiere halten! Im Moment ihrer Befreiung fällt all das weg, und die Kinder Israels offenbaren ihre Unfähigkeit und ihre Unwilligkeit, Verantwortung für ihr eigenes Leben und das Leben des Volkes zu übernehmen. Ist dir schon mal aufgefallen, dass in den ersten Kapiteln nach dem Auszug aus Ägypten sich niemand Mose im Gebet anschließt? Das Volk murrt, und Mose schreit zum Herrn – offensichtlich ohne dabei Gesellschaft zu haben (2. Mose 15,25).
Bei vielen Christen ist der Schrei nach Freiheit sehr groß. Was meistens darunter verstanden wird, ist Freiheit von einengenden Regeln und Anforderungen und die Erlaubnis, zu tun, was immer mal will – ach nee, das heißt ja: „zu tun, wie der Herr mich führt“. Und damit geht meistens einher, dass man sich nicht unterordnen muss und völlig unverbindlich rein- und rausflattern darf, wie es einem gerade beliebt.
Ihr Lieben, wahre Freiheit bringt ein enormes Maß an Verantwortung. Wahre Freiheit entlässt uns nicht in die Unabhängigkeit und Unverbindlichkeit – wahre Freiheit führt uns in die Ordnung und Unterordnung. Es besteht ein Unterschied darin, frei oder vogelfrei zu sein. Paulus gibt den Galatern eine interessante Anweisung: Denn ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder; nur macht die Freiheit nicht zu einem Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander durch die Liebe (Gal 5,13). Der Unterschied besteht darin, frei in der Selbstsucht zu sein (ich tue, was ich will, wann ich will, wo ich will, wie ich will) oder frei in der Gemeinschaft zu sein. Es ist doch interessant, dass Paulus Freiheit und Dienst am Nächsten in einem Satz gebraucht, oder?
Die Freiheit, zu der Christus uns befreit hat, führt uns in die Gemeinschaft. Diese Freiheit lässt uns Verantwortung übernehmen, und zwar sowohl für unser eigenes Leben wie auch für andere. Achtung: Es geht nicht um Bevormundung, Dominanz und Kontrolle anderer, sondern darum, dass wir mit unseren eigenen (egoistischen) Bedürfnissen zugunsten anderer zurückstecken können.
Das sklavenmentalitätsdurchdrungene Volk Israel quengelte solange rum, bis ihr Anführer (oder Gemeindeleiter) Mose das Problem für sie löste. Im Prinzip haben sie nur ihren Sklaventreiber ausgetauscht: Pharao war bisher derjenige, von dem sie Anweisungen (und Vollpension) erwartet haben. Kaum ist Pharao aus den Augen, suchen sie sich jemand anderen, der ihnen Anweisungen gibt und für das All-inklusive-Paket sorgt. Äußerlich waren sie frei – aber innerlich noch genauso versklavt wie vorher, nicht in der Lage, mit diesem überraschenden Vakuum an Fremdbestimmung umzugehen.
Übrigens bezeichnet Paulus sich selbst als Knecht Christi. Dieses Wort doulos hat neben der Bedeutung Sklave auch den Beiklang davon, den eigenen Willen freiwillig (!) im Willen des Herrn aufgehen zu lassen – nicht aus Zwang oder Unterdrückung.
Mir ist das heute morgen so offenbar geworden, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe: Ob wir wirklich frei von einer Sklavenmentalität sind, zeigt sich darin, inwieweit wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Oder anders formuliert: Setze ich mich in ein gemachtes Nest (oder quäke so lange rum, bis das Nest fertig ist) – oder helfe ich beim Nestbau? Bin ich frei, meinen eigenen Willen zu tun, oder meinen eigenen Willen einem anderen aus Liebe unterzuordnen? Unter diesem Gesichtspunkt wird Freiheit plötzlich zu einem ziemlich ernsten Thema…