Ein ehrlicher Mann ist reich an Segnungen; wer aber schnell reich werden will, bleibt nicht unschuldig. (Spr 28,20)
Momentan höre ich oft den Ruf nach „Ehrlichkeit“. Aber was meinen wir eigentlich damit? Welche Wirkung hat eine solche Ehrlichkeit? Und was sagt die Bibel dazu? Mir ist klar, dass das ein ziemlich umfangreiches Thema ist, das ich hier nur ankratzen kann. Aber ich glaube, dass es uns dabei helfen kann, uns selbst sozusagen zu positionieren.
Zunächst einmal erscheint der Begriff „ehrlich“ in der Schlachterübersetzung nur zweimal, z. B. eben in Sprüche 28. Im Neuen Testament gibt es diesen Begriff gar nicht, und bei Luther und Elberfelder überhaupt nicht. Interessant, oder? Stattdessen werden Synonyme gebraucht, wie „redlich, aufrichtig“. Denn genau das ist der ursprüngliche Sinn von „Ehrlichkeit“ – „ehrenhaft“ mit Dingen umgehen, redlich sein, also keine Gesetze verbiegen, nichts zu verheimlichen haben. Wenn wir jemanden auffordern, ehrlich zu werden, meinen wir meistens etwas anderes. Wir meinen: „Werd‘ transparent. Lass die Hosen runter.“ Wenn wir jemanden zur Ehrlichkeit auffordern, und derjenige lässt sich darauf ein, verlässt er seinen Schutzraum. Jemand, der nach unserem Sprachgebrauch „ehrlich“ wird, lässt jegliche Bedeckung fallen und „gibt sich die Blöße“. Die spannende Frage ist: Wollen wir das wirklich? Und können wir eigentlich damit umgehen? Sowohl als diejenigen, die sich derart „entblättern“, als auch als diejenigen, denen plötzlich jemand ziemlich „nackt“ gegenübersteht?
Ein anderes Wort, das wir oft mit Ehrlichkeit verwechseln, ist „Wahrheit“ oder „Wahrhaftigkeit“ – und dazu hat auch das Neue Testament eine Menge zu sagen. Der Grundton dabei ist die Wahrheit oder Wahrhaftigkeit im Gegensatz zur Lüge oder zur Täuschung, und es meint vor allem auch „Wirklichkeit“. Wahrheit oder Wahrhaftigkeit bezieht sich in erster Linie auf sachliche Fakten. Und so können wir die Wahrheit sagen (auch hinsichtlich dessen, was wir über eine Angelegenheit denken), ohne dabei „ehrlich zu werden“ und jeglichen Schutz fallen zu lassen. Das ist der große Unterschied. Ich frage mich momentan: Können wir mit Ehrlichkeit wirklich umgehen?
Und doch ist es untereinander manchmal sehr wichtig, „ehrlich“ zu werden. Denn sonst finden wir uns früher oder später in einem Theater wieder, bei dem jeder seine Rolle spielt – und insgeheim vielleicht ein neues „Engagement“ sucht, weil einem das Stück auf Dauer nicht liegt. Und wieder stellt sich die Frage: Können wir mit Ehrlichkeit umgehen? Kann ich „ehrlich“ sein – und damit meinen Schutz fallen lassen, Ablehnung, Missverständnis oder sogar Unverständnis riskieren? Kann ich damit umgehen, wenn ein anderer „ehrlich“ wird – und plötzlich all das infrage stellt, was für mich nie eine Frage war, wenn jemand „ehrlich die Wahrheit sagt“ und ein ganzes System zwischenmenschlicher Beziehungen ins Wanken bringt?
Mir wird momentan deutlich, dass eine solche Form der Ehrlichkeit nur unter einer Voraussetzung funktioniert: Wenn der Schutzraum der Liebe da ist. Petrus sagt (indem er einen Vers aus den Sprüchen zitiert): Vor allem aber habt innige Liebe untereinander; denn die Liebe wird eine Menge von Sünden zudecken (1 Petr 4,8). Achtung: Liebe kehrt Verfehlungen oder Sünden nicht unter den Teppich! Aber sie bedeckt das, was aufgedeckt wird. Liebe ist der Schutzraum, der meine Blöße bedeckt, wenn ich „die Hosen runterlasse“. Liebe schirmt ab, schützt und deckt das zu, was offenbar wird. In einem solchen Schutz kann man ehrlich werden, ohne die Konsequenzen fürchten zu müssen. Übrigens war diese „Bedeckung“ das erste, was Gott für Adam und Eva nach ihrem Sündenfall tat, bevor er sich um das Problem selbst kümmerte.
Der Umgang mit Ehrlichkeit bringt viel Verantwortung mit sich. Wenn wir Ehrlichkeit wollen oder sogar erwarten, müssen wir uns fragen, ob wir in der Lage sind, die Liebe aufzubringen, die eventuell nötig wird, um das zu bedecken, was bloßgelegt wird. Sind wir in der Lage, diesen Schutzraum aufrecht zu erhalten, bis die Situation geklärt, die Beziehung geheilt oder der Bruder oder die Schwester wiederhergestellt ist – wie auch immer das im Einzelfall aussehen mag?
Mich fasziniert die Geschichte aus 2. Samuel 10, wo Männer des König Davids schwer beschämt wurden, indem der Feind ihren halben Bart und ihre Gewänder in Gesäßhöhe abschnitt. Umziehen geht schnell, aber der Bart (ein Zeichen der Würde) braucht eine Weile. Und David lässt sie in Jericho bleiben, bis das Zeichen ihrer Demütigung sozusagen „verwachsen“ ist, bevor sie anderen wieder unter die Augen treten müssen. Ich glaube, wir können nur in dem Maß wirklich mit Ehrlichkeit umgehen, wie unser „Liebeslevel“ es erlaubt, dass gleichzeitig so viel Schutz da ist, der jegliche Blöße bedeckt. Es geht darum, den Nächsten in dem Maß zu lieben, wie ich mich selbst liebe. Und damit kommen wir wahrscheinlich zum wirklichen Kern der Sache…