Meine Seele ging hinaus, auf sein Wort. Ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht. Ich rief ihm, aber er antwortete mir nicht. (HL 5,6)

Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich sage: Krisenzeiten sind enorm wichtige Zeiten in unserem Leben als Nachfolger Jesu. In der Rückschau betrachtet habe ich oft entdeckt, wie sehr mich diese Krisen in die Tiefe geführt haben, wie meine Wurzeln tiefer reichen. Doch die Erfahrung als solche war meistens wenig erbaulich, solange ich mittendrin steckte…

Die Verkündigung in den meisten „glaubensorientierten“ Gemeinden vermittelt meistens das Bild, dass unser Leben immer nur vorwärts und aufwärts geht, dass „echte Jünger“ in jeder Hinsicht erfolgreich sind, dass Krisen darauf hindeuten, dass unser Wandel mit Gott irgendwie nicht passt. Doch ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass diese Betrachtungsweise zu kurz greift – denn sie dreht sich nur um Äußerlichkeiten, um die Umstände. Sie lässt außer Acht, was innerlich geschieht oder zumindest geschehen kann, wenn wir unsere Krisen zunächst einmal als solche anerkennen und dann – sozusagen geistlich – bewältigen.

Was ist eine Krise? Das generelle Merkmal einer Krise besteht wohl darin, dass unsere gewohnten Muster nicht mehr greifen. Sei es, dass unsere Gesundheit, unsere Finanzen, unsere Beziehungen oder was auch immer plötzlich nicht mehr so funktionieren wie gewohnt, oder sei es, dass unsere Beziehung zu Gott irgendwie auf „Standby“ geschaltet ist. Hier im Hohelied ist es Sulamit, die plötzlich feststellt: Ich suche ihn, meinen Geliebten, aber ich finde ihn nicht. Ich rufe nach ihm, aber er antwortet mir nicht. Ich weiß nicht, ob du diese Erfahrung schon einmal gemacht hast, doch es gibt tatsächlich solche Zeiten, in denen Gott meilenweit von uns entfernt erscheint. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Jesus selbst gesagt hat, dass er immer bei uns bleibt. Er lässt uns nicht los, nur nehmen wir seine Stimme und seine Gegenwart nicht so wahr, wie wir es gewöhnt sind.

Krisenzeiten sind Zeiten, in denen unser Komfort strapaziert wird. Auf einmal müssen wir uns anstrengen. Sulamit sucht und ruft ihn vergeblich – wo sie vorher weder das eine noch das andere tun musste. Und genau darin besteht einer der ersten Effekte solcher Zeiten: Wir registrieren, dass unser übliches Muster nicht funktioniert, also beginnen wir nach neuen Wegen zu suchen. Wir aktivieren Ressourcen, die bisher brachgelegen haben oder wenig genutzt wurden. Wir gehen mehr ins Gebet, lesen die Bibel ganz anders – nämlich mit dem Wunsch, Antworten zu bekommen -, wir fragen nach dem Herrn, wo wir ihn zuvor immer wahrgenommen haben. Wo wir bisher gefüttert und gehätschelt wurden, ist plötzlich niemand mehr und wir müssen uns selbst auf den Weg machen.

Krisenzeiten sind Zeiten, in denen wir unsere eigene Tragfähigkeit und Standfestigkeit entdecken. Es ist wie ein Muskel, den man nur selten braucht, der aber seinen Dienst tut, wenn man ihn plötzlich aktivieren muss. Vielleicht kennst du die Erfahrung, nach einer ungewohnten körperlichen Belastung plötzlich Muskelkater in Bereichen zu haben, wo du nicht einmal wusstest, dass es da Muskeln gibt. Wir mobilisieren Kräfte, von denen wir nicht einmal ahnten, dass sie in uns schlummern. Und indem wir das tun, trainieren wir genau diese geistlichen Muskeln.

Krisenzeiten sind Zeiten, in denen wir unsere Belastbarkeit entdecken und vergrößern. Wir stellen fest, dass wir nicht gleich umkippen, wenn wir Gottes Gegenwart nicht mehr so erleben wie wir es gewohnt waren. Wir greifen auf unser Glaubensfundament zurück, auf Gottes Verheißungen und laufen auf dieser Grundlage weiter, ohne gefühlsmäßig eine Bestätigung dafür zu haben, dass Gott tatsächlich noch mit uns ist. Ich persönlich habe in solchen Krisenzeiten Lobpreis leiten und sogar predigen müssen, was für mich eine echte Herausforderung war, denn wie soll man sich vor Menschen stellen und ihnen die Gegenwart Gottes näherbringen, wenn man sie selbst gar nicht wahrnimmt? Und jedesmal war Gott treu, seine Salbung war da, Menschen wurden gesegnet – bloß ich stand noch immer da und fühlte mich meilenweit entfernt von Gott…

Krisenzeiten sind Zeiten, in denen unser Glaube aktiviert wird wie nie zuvor. Es ist wie wenn wir einen steilen Berg hinauffahren, einen Gang runterschalten und richtig Gas geben, um die Schwerkraft zu überwinden, die unser Auto rückwärts zieht. Und am Ende haben wir den Gipfel oder ein Plateau erreicht, schauen zurück und stellen fest: Das hat funktioniert!

Krisenzeiten sind Zeiten, die unser geistliches Gebiet erweitern. In diesen Zeiten müssen wir Glauben aktivieren, wo vorher alles irgendwie „automatisch“ ging, doch wir erleben, dass wir diesen Berg bewältigt haben oder die Strecke gegangen sind, die vorher von uns nie verlangt wurde – oder auf der wir sonst quasi in einer Sänfte getragen wurden. Und darum werden wir auf diese Weise brauchbarer für Gott, denn Gott kann uns mehr zumuten als zuvor! Ist das biblisch? Kann Gott eine „Zumutung“ sein? Absolut! Paulus sagt: Einer trage des anderen Lasten und so sollt ihr das Gesetz des Christus erfüllen (Gal 6,2). Die Last eines anderen zu tragen kann beispielsweise bedeuten, Glauben zu aktivieren, wo dem anderen Glauben fehlt. Doch wenn wir selbst nicht glauben können, dass Gott eingreifen kann, wie sollen wir dann einen anderen durchtragen? Wie sollen wir Glauben aufbringen, wenn wir selbst nie „über den Berg“ sind?

Krisenzeiten sind Zeiten, in denen wir selbst erleben, wie Gott schließlich eingreift und Ressourcen aktiviert, von deren Existenz wir nicht die geringste Ahnung hatten. Manchmal stretcht Gott unsere geistlichen Muskeln bis wir fast einen Muskelfaserriss befürchten, aber so weit kommt es nicht, weil Gott oft dann handelt, wenn wir am Anschlag sind. Aber an diesen glaubensmäßigen „Anschlag“ kommen wir nur, wenn wir zulassen und aushalten, dass unsere Grenzen ausgelotet werden.

Fühlst du dich in einer geistlichen Krise? Dann grabe tiefer! Hör nicht auf zu suchen, zu rufen oder zu fragen. Gott gibt dich nicht auf und verlässt dich niemals (Hebr 13,5), aber er dehnt und streckt dich, um dir danach mehr anvertrauen zu können.